Wer mehr mit mir zu tun hat, der weiß, wie sehr ich es hasse, mich in großen Menschenmassen aufzuhalten. Weihnachtsmärkte, Großkonzerte und Festivals, Flughäfen und Bahnhöfe – also die Orte, wo eigentlich alle das gleiche logische Ziel haben, sind nach meinem Empfinden Fundstelle für all die Wesenszüge, die ich an Menschen verabscheue oder immer wieder zu verabscheuen lerne.

Als mich anlässlich unseres Familienurlaubs in Kroatien die Forderung meiner Frau traf, nach so vielen Jahren endlich den größten Nationalpark Kroatiens – die Plitvicer Seen – zu besuchen, bewegte sich meine Vorfreude irgendwo zwischen Steuerprüfung und Wurzelbehandlung. Nicht wegen fehlenden Interesses sondern wegen der zu erwartenden Menschenmenge. Sich gegenseitig grün und blau prügeln. Das wäre es.

Warum so pessimistisch ? In der Hochsaison besuchen täglich mehrere zehntausend Menschen den Park. Die Tickets sind teuer und nicht selten ausverkauft. Man kauft Tickets für einen Zeitraum des Zutritts –> 10 Minuten, maximal 200 Besucher –> an jedem der 3 Eingänge. Anschließend zwängt man sich auf einem Pfad, ca 140cm breit, in einer Kolonne aus Menschen. Die Wanderung durch den Park dauert zwischen 2 und 7 Stunden. Im Park selbst darf man nichts außer laufen, gucken, Fotos machen und anderen ausweichen. Man darf nur auf dem Weg gehen, nichts anfassen und bis auf die Rastplätze nichts essen.

Meine Erwartung : Schwitzende, übellaunige Touristen, schreiende Kinder und keine Ruhe.

Und mein Gott, was habe ich danebengelegen. Es war voll, ja ! Man lief in einer Kolonne, ja ! Aber all die Menschen gaben aufeinander Acht ! Sie hatten ein Lächeln füreinander übrig. An einigen Aussichtspunkten teilten mir Fremde ihre Gefühle mit. Nicht immer in Sprachen, die ich verstand, aber strahlend und ich musste ihnen immer Recht geben.

Der Plitvicer Nationalpark ist riesig und eigentlich sieht man nur die in Tavertinen fließenden Seen. Und Wasserfälle. Und Flora und Fauna. 620 Tierarten leben hier. 1500 Pflanzenarten und davon 60 Orchideenarten. Das Wasser – so klar, dass du bei jedem See die Struktur des Grundes siehst.

Ich vermute, dass die Natur hier ihren Zauber auf die Menschen wirkt. Das Blau des Wassers, das Grün der Pflanzen beruhigt wohl alle und schafft ein Klima, dass man bei Helene Fischer im Mosh-Pit wohl immer vermissen wird.

Am Ende des Rundgangs auf dem Weg zu unserer Pension und außerhalb des Parkgebietes gibt es noch einen Aussichtspunkt, auf dem das präsentierte Foto entstand. Blau und Grün und Weiß – und da waren wir auch alleine.

Es gibt nicht viel, was in meiner Vorstellung paradiesischer ist.

Leider bezahlte meine Frau unsere Wanderung an diesem Tag mit einer heftigen Verstauchung im Knöchel. Der Schmerz war so heftig, dass kurzzeitig nur das Weiße in ihren Augen zu sehen war. Und die nächsten 2 Wochen das Grün und Blau am Knöchel.

Am 30. Dezember 2021 befand ich mich mit meiner Frau und meinen Kindern in unserer traditionellen Silvesterauszeit auf der Insel Fehmarn. Es war so schön ruhig und entspannend.

Dieses Jahr würde bald enden (gut so) und ich hoffte, dass das nächste Jahr mir weitere Besserung bringen würde. Eigentlich alles gut also. Wenn ich da nicht noch diese eine Aufgabe zu meistern gehabt hätte: Ein paar Tage später wollten Marcel und ich eine neue Podcastfolge aufnehmen, zusammen mit unserem lieben Freund Moppi.

Eben jener hatte die großartige Idee, Marcel damit zu überraschen, dass wir in der Folge live den Song „Wände“ von Hannes Wittmer performen könnten, er an der Gitarre, ich am Mikro. Einen Song über Depressionen, auf den mich Moppi zwei Wochen vorher aufmerksam gemacht hatte. Geile Idee, dachte ich. Mal wieder Mucke machen, auch wenn es nur für einen Song ist. Und dann auch noch so ein starker Song. Ich liebte die Melodie, der Text war überwältigend: poetisch, dabei nicht zu verspielt, klar verständlich. Und so wie Hannes Wittmer ihn sang, ging er ohne Umweg über das Gehirn direkt in Herz und Bauch.

Ich übte das Lied immer und immer wieder nur für mich. Der Text saß, die Töne irgendwann auch. Es gab nur ein Problem: egal, was ich versuchte, wenn ich diesen Song sang, ließ er mich kalt. Ich verstand, worum es ging. Durch Marcel, unseren gemeinsamen Podcast, meine Krankheit und einer eigenen depressiven Episode vor 20 Jahren inkl. Therapie, wusste ich genau, was Hannes da ausdrücken wollte. Deswegen berührte es mich auch so, wenn er es sang. Aber bei mir fehlte irgendetwas…

Mir lief die Zeit weg und ich überlegte, wie ich Moppi sagen könnte, dass ich lieber doch nicht den Song mit ihm spielen will. Dann fuhr ich mit meiner Familie an diesen Strand. Es war trüb, kalt. Adrian und Lilia spielten in ihren Winterklamotten mit Handschuhen im feuchten Sand. Der Strand war fast leer, also wollte ich die Zeit nutzen und wieder einmal üben, während ich am Wasser entlangspazierte. Es wurde immer trüber und als ich mich umdrehte, sah ich meine Familie nicht mehr. Ich war mitten in einer Nebelwand, die so dicht war, dass ich nur ein paar Meter weit schauen konnte. Vom Nebel eingehüllt ging ich noch etwas weiter und sang etwas lauter, mich konnte ja keiner sehen. Auf einmal merkte ich: da ist etwas. Da ist etwas in meiner Stimme, in mir, in der Art, wie ich singe, die mich endlich spüren lässt, was dieses Lied ausmacht. Mein Bauch kribbelte und es lief mir wohlig den Rücken runter. Ich starrte eine Weile in den Nebel und fühlte in mich hinein. Und ich begriff: der Nebel, dieser Strand, sie hatten etwas ausgelöst. Ich fühlte mich isoliert, alle Sinneseindrücke waren gedämpft, das Licht war sehr diffus, es war bedrückend. Und gleichzeitig war es beeindruckend, wunderschön, denn ich wusste: hinter diesem Nebel, da war der Rest der Welt, meine Familie und sie warteten auf mich. Die Bewusstwerdung dieser zwei Pole, der zwei Seiten einer Medaille, das war es, was mir bisher gefehlt hatte. Ich hatte mich nur auf den bedrückenden, negativen Gefühlspart konzentriert und dabei den anderen komplett ignoriert. Eigentlich hätte mir aber auch klar sein müssen, dass ich für dieses Lied erst an einen Strand gehen muss…

Ein Teil dieses Textes entstand in einem winzigen Ort im Haus eines Freundes in Mecklenburg-Vorpommern (Anm. der Redaktion : Das Haus ist in Niedersachsen).

Es ist hier heiß und schwül und da ich nicht den ganzen Tag sitzen wil, beschließe ich nachmittags ein Stück zu laufen. Ohne Ziel an den wenigen Häusern vorbei, entdecke ich einen Trampelpfad , der zu einem Gleisbett führt.

 

Schienen haben für mich etwas unwiderstehliches, also nehme ich ihn.

Wie immer auf Schienen muss ich ein Foto machen.

Depression ist kompliziert.

Schienen sind einfach . eine gerade Linie bis zum Horizont. Bäume, Häuser, Straßen. Alle machen sie latz.

 

Ich überquere die Schienen und bin im Wald. Nicht nur die Schienen auch der Pfad ins Unbekannte reizt mich immer.

Ich suche Stille. Im Wald ist es natürlich nie wirklich still, aber ruhig.

Ich folge dem Pfad und der Ruhe tiefer und tiefer, bis ich weder Schienen noch Häuser sehen kann. Das Rauschen des Windes in den Blättern klingt wie freundliche, murmelnde Stimmen, die Vögel singen.

Der Duft des Waldes ist warm und ich gehe eine Weile weiter.

 

Plötzlich halte ich inne. Mein Orientierungssinn sagt mir, dass ich mich weiter und weiter von dem Haus entferne.

 

Fliegen und Mücken werden zudringlicher. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und öffne die Karten App. Ich habe Recht – ich bin in die falsche Richtung unterwegs.

 

Es ist nicht leihct, ein Abenteuer zu finden.

Das ist beruhigend und enttäuschend.

 

Verloren gehe ich nicht. (zumal in Mecklenburg-Vorpommern) – aber wenn ich mich nicht verliere, wie soll ich mich dann finden ?

(Anm. der Redaktion : Wäre Marcel in diesem Augenblick in MV und nicht in Niedersachsen gewesen, dann wäre in jedem Fall eine Luftlinie von 35km und eine Elbdurchquerung geschehen).

 

Wir leben in einer Welt, in der neue Erfahrungen rar sind immer rarer werden.

Vielleicht gibt es deshalb diese ganze Industrie.

 

Eingebunden in Strukturen, die uns halten und festhalten.

 

Sich im Wald zu verlaufen ist ärgerlich.

Es ist ab und an auch erforderlich, um seine einen Werte auf die Probe zu stellen, sich selbst kennenzulernen.

 

Wenn das nicht mehr möglich ist : Was macht das dann mit uns ?

 

Wir wissen nicht, was gut für uns ist.

Wir wissen nicht, was wir aushalten können

« Wenn du dich noch nie geprügelt hast, was weißt du dann über dich ? »